Osterlüftchen

Wenn ich mal genug Ukraine-Horror oder Screen-Trance habe, also gelangweilt vor dem Bildschirm hocke, alles stummschalte, mal app-schalte, mache ich mich gerne auf einen Bonda-Quartierspaziergang. Wenn man viele Stufen übersprungen hat, endet man in Chur hier oben, kann fast nicht mehr weiter.

Als Füdlibürger-Churer vom Bonda-Quartier, sehe ich mich natürlich nicht als solchen. Meine routinierte pseudo-intellektuelle Geringschätzigkeit dieser Umstände erleichtert dann auch einen deep dive in diese Zielgruppe mittlerer provinzieller Bürgerlicher, die sich für klüger hält, als sie ist. Also wie ich.

Ich kann ja, als alter B-Boomer, nicht in diesem ambitioniert frechen werblichnervenden Influencerinnen-Ton über mein Quartier reden.

Das selbstgefällige Zen, dass sich im Herumkarriolen im Diesel-SUV, Eigenverantwortungs-Golfen und blau-gelben Nails äussert, kann ich nicht ganz nachmachen, aber doch verstehen. Ist ja auch nicht durchs Band so: Im Bondaquartier redet man eher über Weingüter, Prostata-OP und Saron-Zinsen.

Mein reflexhafter Sarkasmus ist hier eh nicht angebracht. Lässt höchstens oberflächliches Verstehen für meine Denke ahnen.

Wir wissen ja, dass die Summe aller sich selbst verwirklichenden Individuen glückliche Gesellschaften ergibt.

„Schatz, ich bin glücklich.“ schreien ja schon die üblichen zwei- bis dreistelligen GR-Autonummern.

Diese Leute in ihrer kleinen Alltäglichkeit und Anhänglichkeit, in ihrer geduldigen Bedeutungslosigkeit, haben eben Regeln.

Mit geblähten Sehnsuchtssegeln erfüllt von einer grossen Ruhe,  spaziere ich durch mein Traumquartier. Hier scheinen die Leute nicht einmal zu ahnen, dass man auch nicht glücklich sein kann…

 

Guat, alles hat schon irgendwie den Look des pensionierten Regierungsrates, der mit grosser Selbstverständlichkeit das Recht auf seine Anwesenheit wahrnimmt. Ist doch alles gepflegt, maniküriert, justiert, ordentlich nett und putzig blumig. Samschtigsjass-Graduierte, FDP-SVP-Leserbrief-Pleps oder auch diversifizierter: Dinkel-Dünkel-Bündner mit Vollkornsandalen..Aber auch Corona-Gegner soll es hier geben. Nur: gegen eine Krankheit sein, nützt ja auch nicht viel.

 

Und wenn am Horizont der Surselva-Himmel dann so unendlich und weit die Nachmittage lang sind, komme ich keineswegs ins Grübeln. Eine grosse Weite breitet sich in mir aus,

…ein wortloses Gefühl des Erhöhtseins, immerhin 150 Meter über dem Churer-Normlevel.

 

Die Rehe, die immer wieder in unserem Garten fressen, sind da eher ein Symbol. Glücklich und schweigend gemeinsam. Wie zwei Menschen, die es gewohnt sind, viel Zeit miteinander zu verbringen, sehen wir uns – wenn sie mich nicht wittern – durch die Mehrfach-Glasung an. Ich twittere dann beiläufig das Gefühl, es begrüsse mich mit der herzlichen Beiläufigkeit, die eben ehemalige Regierungsräte im Quartier auszeichnet.

Wobei das Reh, wie mir scheint, mit etwas weniger aufgeblähten Bedeutungssegeln grast. Es hat wohl auch schon das moderne, bescheidene Schweizer Mittelschichts-Verhalten angenommen. Und leidet auch nicht unter dem Segel einiger schärferer Missinterpretationen – manchmal hör’ ich da raus: Afghanen? ja, als Hunde. Ukrainer? ja, zur Imagekorrektur. Velofahrer? OK, solange Tempo 50 bleibt. (OK, Das war jetzt die Stelle mit der billigen Polemik.)

 

Guat, haben wir beim Toleranz-Yogi gelernt; ich will auch nicht im Quartierleben herumnasen. Auch wenn einige vielleicht Vollpfosten sein mögen, sie haben ein Recht Bremspfosten zu sein…(wie die Fossilien-Partei, die SVP, die nur noch Fossile unterstützt. Schliesslich laufen die russischen Panzer nicht mit Erneuerbaren.)

 

Heute ist eh Osterweekend. Osterspaziergang. Schon bei Dante kam man in den Höllenkreis im Erdinnern durch acht terrassierte konzentrische Kreise hinab. Fast wie so vom Kliiwaldegg zum Kantonsspital. – Oder umgekehrt von unten nach oben 4 Tage und 3 Nächte immer weiter der Höhe zustrebend ins Purgatorium (der Reinigung). Eben sozialer Aufstieg. Der Flug durchs himmlische Gefild.

Weiss nicht, ob all die Putzfrauen, die hier täglich raufkommen, das auch so sehen…

 

(Vielleicht schreib ich auch aus Notwehr solche Anbiederungssätze.)

Das gute alte Gretchen, die Putzfrauen-Figur der Literatur.
hat’s auf jeden Fall irgendwie gecheckt. – Ich hör’ schon den Oster-Faust spazierelen: „Ich höre schon des Dorfs Getümmel. Hier ist des Volkes wahrer Himmel. Zufrieden jauchzet gross und klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!“

Und alle Oster-Oberstufen-Kolumnisten meiner Güte würden da agitato beifügen: Osterlüftchen. Wir sind unseren Grossvätern dankbar für die AHV, die wir ihnen jetzt abklemmen, lassen ihnen auf den Fussgängerstreifen keinen Vorrang, sind aber doch pazifistisch und jetzt auch für einen Nato-Beitritt.

Füdlibürger sind nicht immer Fortschrittswürger.

Wir sind ja im Ruhestand. Und gerade aus dem Stillstand soll neues Leben entstehen. Das zeigt  sich ja in der Korrelation des Verschwindens von Krawatten und dem steigende Anteil von Frauenkandidaturen bei den Grossratswahlen. Da kommt doch so ein mau-laues Frühlingsmütchen auf…

 

 

 

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